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EINFÜHRUNG: Die Ästhetik des Wunders

EINFÜHRUNG (Jelena Rakin)

Bilder aus Erdbeobachtung und Astronomie beeindrucken durch eine eigene, überwältigende Ästhetik. Sie evozieren bei den Betrachter:innen häufig den Eindruck des Schönen, auch wenn die Grundlagen für eine solche Wirkung im Kontext wissenschaftlicher Bilder nicht immer auf den ersten Blick offensichtlich sind. Bei genauerem Hinsehen lassen sich die konstitutiven Elemente dieser Bilder in ihrer Ästhetik jedoch im Sinne einiger grundlegender kunst- und medienhistorischer Parameter des Bildes – wie Harmonie, Linie, Farbe oder Materialität – deuten. Die Ausstellung beleuchtet die historischen, kulturellen und ästhetischen Mechanismen, die einen Vergleich dieser wissenschaftlichen Bilder mit den abstrakten Bildern der Kunst ermöglichen.

Perspektive und malerische Qualität des Bildes

Die Abstraktion des Bildes wird durch das Verschwinden der üblichen Merkmale der physischen Wirklichkeit erreicht. Ein fotografisches Bild unterscheidet sich daher in mehrfacher Hinsicht von der physischen Wirklichkeit, deren Ausschnitt es darstellt. Dazu gehören die Unterschiede im Massstab, der Wegfall des Schwerkrafteindrucks, der die Beliebigkeit von oben und unten im Bild erlaubt, der Wegfall der Raumtiefe, der durch die Übersetzung der Dreidimensionalität in die zweidimensionale Bildfläche entsteht, der Wegfall der olfaktorischen Qualitäten usw. Dass Bilder aus dem Bereich der Erdbeobachtung und Astronomie immer wieder Bewunderung für ihre „malerische” Qualität hervorrufen, hängt sicher auch damit zusammen, dass sie durch die Bildperspektive eine betont abstrakte Qualität erhalten. Fotografiert man einen Wald, eine Wüste oder einen Ozean aus der Vogelperspektive statt mit einer Kamera, die auf Augenhöhe eines Menschen auf der Erde gehalten wird, so sind die vertrauten Orientierungsmerkmale Horizont, Boden oder Himmel nicht mehr erkennbar. Wenn man sich dann noch weiter von der Erde entfernt, ändert sich der Massstab erheblich. Die sinnliche Erfahrung, die der menschliche Körper sonst macht, verliert in der Makroperspektive ihre Bezugspunkte. Man hat es nicht mehr mit einem anthropozentrischen Blick zu tun, wie er die Bildgeschichte geprägt hat. Stattdessen wird das Vertraute fremd, die physische Wirklichkeit zum abstrakten Bild.

Dank der Fotografie hat sich die Malerei der Moderne von der Nachahmung der physischen Wirklichkeit befreit. Das 20. Jahrhundert markiert damit die Hinwendung der Malerei zur Erforschung der Bildfläche und der Farbe als autonome Qualitäten. Die Bildfläche ist nicht länger ein Fenster in den (vorgetäuschten) dreidimensionalen Raum, und die Farbe in der Malerei ist nicht länger ein Mittel zum Zweck. Dank der zahlreichen zeitgenössischen Bilder der Erdbeobachtung und der Astronomie steht uns plötzlich eine unerschöpfliche Quelle von vergleichbar abstrakten „Gemälden” zur Verfügung, die in ihrer wundersamen Farbigkeit das breite Publikum immer wieder faszinieren. Denn in Verbindung mit einer abstrahierenden Perspektive erscheinen die Farben der Erdbeobachtungsbilder und der Astronomie, als würden sie vergleichbar für sich selbst stehen und nicht etwas imitieren. Wenn in einigen dieser Bilder zusätzlich Falschfarben verwendet werden, ist der Effekt einer autonomen Farbe vollkommen.

Abstraktion und Gegenständlichkeit in der Fotografie

Von Anfang an hatte die Fotografie ein neuartiges Verhältnis zur physischen Wirklichkeit. Im Gegensatz zu den traditionellen, von Menschenhand geschaffenen Bildern, wie der Zeichnung oder der Malerei, wurde der Fotografie Objektivität und dokumentarischer Charakter zugeschrieben. Denn die Fotografie wird mit Hilfe eines Apparates hergestellt und soll daher die Welt ohne Eingriff der menschlichen Hand dokumentieren. Im 19. Jahrhundert wurde sie deswegen von dem französischen Astronomen François Arago als Versprechen einer „universellen mathematischen Sprache” in die Astronomie eingeführt. Diese vermeintliche Objektivität des fotografischen Apparats ermöglicht nun aber eine Vielzahl spezifischer Darstellungsentscheidungen - etwa über die Dauer der Belichtung (Langzeitbelichtung oder deutlich kürzere Zeitintervalle einer Momentaufnahme), über die Kadrierung, über Entscheidungen zur Farbgebung. Eine spezifische praktische Entscheidung mit ästhetischen Konsequenzen in der Erdbeobachtungsfotografie und auch Astronomie ist, Bilder ohne Wolken zu produzieren. In gewisser Weise knüpft man hier an das seit langem bestehende klassische Ideal des „fruchtbaren Augenblicks” in

der Kunst an, wo man versucht, die „ideale”, „repräsentativste” Ansicht einzufangen. Aber auch andere Entscheidungen zeugen immer wieder von Eingriffen in das vermeintlich objektive dokumentarische Bild - die Falschfarbe wäre hier als eines der vielleicht auffälligsten Phänomene zu nennen. Und was in der klassischen Fotografie als Mehrfachbelichtung bezeichnet wurde, könnte man in den Bildern der Astronomie und Erdbeobachtung mit der Überlagerung verschiedener Visualisierungen von Datensätzen im Bild vergleichen. Auch wenn die klassische Fotografie nie ein rein dokumentarisches Verfahren war, so revidieren die zeitgenössischen Bilder der Astronomie und Erdbeobachtung dieses Spannungsfeld zwischen Dokument und kreativer Visualisierung auf ganz neue und einfallsreiche Weise.

TEIL I: Erdbeobachtung aus kunstgeschichtlicher Perspektive

TEIL II: Kunstgeschichtliche Einordung der Bilder Astrophysik

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