TEIL I: Erdbeobachtung aus kunstgeschichtlicher Perspektive
Autorin: Jelena Rakin
„Orbitaler Blick” und „Overview Effect”
Bis zum 20. Jahrhundert waren Bilder, die die Erde aus dem Weltraum zeigten, ausschliesslich das Ergebnis der Vorstellungskraft ihrer Autor:innen. Solche imaginären Flüge waren in der Geschichte der Bilder sehr häufig. Im 19. Jahrhundert entstanden dann die ersten Luftaufnahmen, die die Erde von oben zeigten. Der französische Fotograf Nadar hatte eine Kamera an einem Ballon befestigt und so Paris aus der Vogelperspektive fotografiert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Luftbildfotografie durch Aufnahmen aus Flugzeugen weiterentwickelt, die eine zentrale Rolle bei den Aufklärungsflügen während des Krieges spielten. Die Luftaufnahmen des Ersten Weltkriegs führten zu einer neuen Sichtweise der Erde, die nicht mehr an das direkte Sehen und Erleben gebunden war. Stattdessen wurde die Erde als Bild aus der Vogelperspektive wahrnehmbar. Dies gilt auch für die heutigen Bilder: Die Aufnahme von „Minnesota im Winter” hat in dieser Hinsicht dank einer verflachenden Vogelperspektive einen ausgeprägten Bildcharakter. Diese abstrahierte Erfahrung der irdischen Landschaft liess bildnerische Besonderheiten hervortreten, die sonst nicht unmittelbar als solche erkennbar waren: etwa die Ähnlichkeiten zwischen der bombardierten irdischen Kriegslandschaft und den fotografierten Mondkratern - man sprach von einem „Mondeffekt” der Erde nach intensivem Bombardement im Ersten Weltkrieg. Auch das vergleichbar aktuelle Bild „Klare Nacht” vom nächtlichen Europa mit seinen leuchtenden Städten begünstigt den Vergleich zwischen der Erde und dem nächtlichen Sternenhimmel. Das Bild „Auge der Sahara” wiederum, dass die Struktur der konzentrischen Kreise in der Wüste Maur-Adrar in Mauretanien zeigt, weist eine Ähnlichkeit mit vergleichbaren Formationen auf anderen Planeten auf, die für die Betrachter:innen in dieser Form der Vogelperspektive und als konzentrische Kreise nur in einem Bild erfassbar sind.
Der Kriegstechnologie ist auch die erste Aufnahme der Erde aus dem Weltraum zu verdanken. 1946 wurde eine Filmkamera an einer V2-Rakete befestigt. Die im Abstand von eineinhalb Sekunden aufgenommenen Bilder zeigten die Erdkrümmung, die wir heute mit den Bildern der Erde aus dem Weltraum identifizieren. Der Medienhistoriker Peter Weibel sprach in diesem Zusammenhang von einem neuen Paradigma des Sehens, dem „orbitalen Blick”. Dem ersten Bild der Erde aus dem All folgten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitere Bilder, die zum Teil von noch weiter entfernten Standpunkten aus aufgenommen wurden. Zu den bekanntesten gehören „Earthrise” von 1968 und „Blue Marble” von 1972, das zum ersten Mal die ganze Erde zeigte. Mit der Inbetriebnahme der Internationalen Raumstation (ISS) im Jahr 1998 erhielt die Menschheit einen regelmässigen Strom von Foto- und Videoaufnahmen der Erde aus dem Orbit. Nicht zuletzt sind diese Aufnahmen häufig mit Kommentaren der wundererfüllten Astronaut:innen auf der Raumstation begleitet und zeugen von einem starken psychologischen Effekt, der bei der Betrachtung von einem orbitalen Standpunkt entsteht. Der „Overview Effect”, den Frank White 1986 in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat, bezeichnet eine besondere emotionale und spirituelle Dimension des Erlebens der Erde aus dem Weltraum.
Die Bilder vom „Kratersee”, den „Roten Punkten in der Kalahari Wüste” oder den „Sterndünen” laden noch immer zum Staunen und Bewundern der Erde ein. Zugleich verweisen sie im zeitgenössischen Kontext der Weltraumforschung auf eine andere Form des Blicks von oben nach unten, der nicht mehr ausschliesslich der Erde vorbehalten ist. Mit Hilfe verschiedener Raumsonden wurden auch andere Himmelskörper unseres Sonnensystems bei Vorbeiflügen aus der Vogelperspektive fotografiert - und damit das Paradigma des Blicks von oben nach unten bis an die Grenzen des Sonnensystems erweitert. Zu den Ähnlichkeiten des Blicks gesellen sich auch hier Ähnlichkeiten der beobachteten Phänomene - wie im Fall der sternförmigen Dünen des östlichen Grossen Ergs, die in dieser Form nicht nur auf der Erde, sondern auch auf dem Mars beobachtet wurden.
Gaia-Hypothese der 1970er Jahre und die lebende Erde
In den 1970er Jahren postulierten die Biologin Lynn Margulis und der Chemiker und Biophysiker James Lovelock die berühmte Gaia-Hypothese, nach der die Erde ein sich selbst erhaltender Organismus ist. Diese Idee hat vor dem Hintergrund verschiedener Klimadebatten eine zentrale Rolle im Nachdenken über die Erde eingenommen. Bilder der Erde aus dem Weltraum - wie „Blue Marble” 1972 oder „Earthrise” 1968 - erhalten eine besondere Wirkungskraft, wenn sie um diese Dimension des Denkens im Wahrnehmungsprozess erweitert werden. Die Vorstellung von der Erde als lebendigem Organismus weckt das Verständnis für ihre Verletzlichkeit, die im Umkehrschluss auch die Verletzlichkeit der Menschheit im Allgemeinen und jedes Einzelnen darstellt. Es ist von Bedeutung, wie diese Form der Erkenntnis durch die Bilder und ihre Kontextualisierung entstehen kann. Die Satellitenbilder der Erde zeigen Ansichten, die der Mensch in seiner irdischen Lebensweise nicht wahrnehmen kann. Solche Bilder erscheinen dann als Boten der Existenz grösserer Zusammenhänge und der Verbundenheit des Lebens auf der Erde. Dies ist an sich schon eine fruchtbare Grundlage für die Erfahrung der geistigen und erhabenen Dimension des kosmischen Lebens, die dem Menschen in der Vertrautheit des erdgebundenen Alltags, aus der Perspektive der Städte, der Strassen und der geschlossenen Räume des Arbeitsplatzes oder des Wohnzimmers betrachtet, oft entgeht. Es ist, als ob dieser entfremdete Blick von oben auf die Erde auch einen viel abstrakteren Blick auf die kosmischen Bedingungen des menschlichen Lebens ermöglichen würde. Gerade in den Satellitenbildern der Erde wird deutlich, wie sich dieselben kosmischen Prinzipien in unterschiedlichen Massstäben manifestieren. Im Bild „Algengalaxie” erinnert die auffallende Vitalität der grünen Farbe an die Vorstellung von organischem Leben auf der Erde. Die minutiösen Algen kommen zusammen und bilden eine spiral bewegte Superformation. Im Vergleich dazu sind die spiralförmigen Algenblüten, die aus einer Vielzahl winziger Organismen bestehen, viel kleiner als die Galaxien, die ebenfalls spiralförmig erscheinen können.
Diese Bilder unterstreichen weiterhin die Vorstellung, dass das Leben auf der Erde einzigartig und wertvoll ist: Die Rare-Earth-Hypothese geht beispielsweise davon aus, dass komplexe Organismen, wie sie auf der Erde existieren, unwahrscheinlich oder selten im Universum sein müssen. In Bildern wie „Algengalaxie” und „Great Bahama Bank” sind es vor allem die Farben und Formen, die das Leben symbolisieren, so wie es mit der Erde synonym ist - das Grün der Pflanzen und das Blau des Wassers. Zoomt man dann ein wenig heraus, wie bei dem Bild der „Mondschatten”, so sieht man die Erde, Gaia, mit all ihren Blau- und Grüntönen des kosmischen Lebens, das sie beherbergt. Der vergleichsweise kleine Schatten des Mondes unterstreicht die intrinsische Verbindung der Erde mit den grösseren Zusammenhängen der Himmelsmechanik. Einige Medienwissenschaftler:innen haben den fotografischen und filmischen Aufnahmen eine animistische Tendenz zugeschrieben - als würden diese Bilder das Leben nicht nur „einfangen”, sondern selbst eine belebte Qualität besitzen. Dieses Konzept könnte vielleicht dazu beitragen, die starke konzeptuelle und emotionale Aufladung der Erdbilder und ihre animistische Kraft zu verstehen. Gerade heute und vor dem Hintergrund des Anthropozän-Diskurses werden verschiedene Debatten geführt, die sich für eine solche - animistische - Sichtweise einsetzen. Es wird für eine Weltsicht plädiert, in der die Phänomene des irdischen Lebens, andere Organismen, Landschaften, Wälder nicht als blosse Objekte und Ressourcen, sondern als gleichberechtigte Lebensformen betrachtet werden. Und bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Filmtheoretiker:innen wie Jean Epstein oder Germaine Dulac dem Film und der Fotografie aufgrund ihrer technischen Grundlagen eine Fähigkeit zugeschrieben, das tatsächliche Leben einfangen zu können. Im Gegensatz zu anderen Künsten wie der Malerei, die eine subjektive Vorauswahl der dargestellten Phänomene treffe, hätten Film und Fotografie die einzigartige Fähigkeit, ein autonom lebendes Bild zu erschaffen. Dieses sei nur bedingt von den Bildautorinnen beeinflussbar, sondern zeichne sich vielmehr selbst ab.
Fraktale Geometrie und Ornament
Als fraktale Geometrie wird ein visuelles Phänomen beschrieben, das sowohl das Interesse von Künstler:innen als auch von Wissenschaftler:innen weckt. Obwohl die Prinzipien der fraktalen Geometrie in der ornamentalen Kunst schon lange verstanden und angewandt wurden, wurden sie erst im 20. Jahrhundert von dem Mathematiker Benoît Mandelbrot als solche bezeichnet und systematisch erfasst. Mandelbrots Ausgangspunkt war der Wunsch, die Mathematik mit dem Sehen, dem Leben und der Empfindung zu verbinden, von denen sie in ihrer modernen Form getrennt war. Die fraktale Geometrie ist daher eine stark visuelle Form der Erkenntnis. Konkret geht es bei der fraktalen Geometrie um die Selbstähnlichkeit von Formen, die in verschiedenen Massstäben variiert und wiederholt werden. Beispiele für fraktale Geometrie in der Natur finden sich sowohl in organischen als auch in anorganischen Phänomenen, in der Biologie wie in der Geologie, in der Verzweigung von Pflanzenblättern, in Baumästen, in der menschlichen Lunge oder in Küstenformationen. Die Bilder „Schneeschmelze in den Alpen” und „Mangrovenwald der Sundarbans” erinnern an die visuellen Phänomene der fraktalen Geometrie am Beispiel der geologischen Formationen, die den Ausgangspunkt für Mandelbrots Forschungen bildeten. Das intensive Rot im Bild „Mangrovenwald der Sundarbans”, dass die Mangrovenwälder in Asien zeigt, wirkt in der Gegenüberstellung mit „Schneeschmelze in den Alpen” deutlich abstrakter, in gewisser Weise ornamental und dekorativ. Dieser Eindruck wird nicht zuletzt durch die „Falschfarbe” Rot verstärkt. Auch wenn es sich hier nicht um ein Beispiel aus der dekorativen Kunst handelt, wird man im Betrachtungsprozess eines der Prinzipien gewahr, auf der sie stützt – der Lust am Verfolgen der Linien, die der Kunsthistoriker Ernst Gombrich als eine Affinität der menschlichen Wahrnehmung identifiziert. Diese Affinität macht den Reiz des ästhetischen Genusses an der ornamentalen Kunst aus. Eine ähnliche Erkenntnis liegt der Unterscheidung zwischen dem „Ornamentierungstrieb” und dem „Darstellungstrieb” der figurativen Kunst zugrunde, die der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim in seinen Überlegungen zum Bild hervorhebt. Der Reiz von Bildern wie „Schneeschmelze in den Alpen” oder „Mangrovenwald der Sundarbans” liegt in ihrem Doppelcharakter: Sie erscheinen als ornamentale Flächen, während sie gleichzeitig Teile der konkreten physischen Welt darstellen. Auch wenn ein vergleichbarer Doppelcharakter der schönen Farb- und Formoberfläche einerseits und der Darstellung physikalischer Phänomene andererseits generell für die Bilder dieser Ausstellung behauptet werden kann, wird man auf der Grundlage der fraktalen Geometrie, die sowohl in der belebten als auch in der unbelebten Natur vorkommt, auf die Verbundenheit aller Formen des kosmischen Lebens und Seins aufmerksam gemacht. So erkennt man in diesen und verschiedenen anderen Bildern, dass diese Verbundenheit nicht nur auf physikalischer und chemischer Ebene besteht, sondern auch auf der Ebene der ästhetischen Schönheit.
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EINFÜHRUNG: Die Ästhetik des Wunders
TEIL II: Kunstgeschichtliche Einordung der Bilder Astrophysik