TEIL II: Kunstgeschichtliche Einordung der Bilder Astrophysik
Autorin: Jelena Rakin
Naturharmonie und Spirale
In der vergleichenden Darstellung der von den Weltraumteleskopen Hubble und James Webb simulierten Galaxien im Bild „Das Universum mit anderen Augen” sind in beiden Fällen helle Spiralen, die Galaxien darstellen, vor einem dunklen Hintergrund zu sehen. Der Hell-Dunkel-Kontrast dynamisiert einerseits das Bild auf der Ebene der Farbe. Der schwarze Hintergrund, der für astronomische Darstellungen ikonografisch ist, kommt dadurch stark zur Geltung. Auf der Ebene der Linie erzeugen die Spiralen zudem den Eindruck von Harmonie. Sie geben eine erkennbare Form, wie es etwa die Kontur in der Zeichnung tut. Die Spirale nimmt sowohl in der Natur als auch in der Kunstgeschichte einen besonderen Platz ein: In beiden Kontexten ist sie am engsten mit den Grundprinzipien der Harmonievorstellungen verbunden. An der Schnittstelle von Natur und Kunst liegt in dieser Hinsicht vielleicht die bekannteste Spirale verortet, die Nautilusspirale, die oft als Beispiel für die Fibonacci-Zahlenfolge und die mathematische Grundlage der geometrischen Harmonie in der Natur herangezogen wird. Die Spirale, die verschiedenen Naturphänomenen innewohnt, hat früh das Interesse der Fotografie geweckt. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts erschien in dem Buch „Urformen der Kunst: Wundergarten der Natur” die berühmte Fotografie von Karl Blossfeldt, die die spiralförmigen Blätter des Farns zeigt (1928). Das Medium Fotografie, das eine Art neuen Sehens ermöglichen sollte, machte somit die abstrakte Schönheit der Naturformen sichtbarer und verwies zugleich auf die Wiederkehr bestimmter geometrischer Muster sowie auf die Durchlässigkeit zwischen wissenschaftlichem und ästhetischem Blick auf Naturphänomene.
Bedeutung und Metamorphose der Farbe
Das Bild „Euclid Leuchtturm-Simulation” zeigt eine faserartige Struktur aus Dunkler Materie, an deren Schnittpunkten sich Galaxienhaufen befinden. Es handelt sich um ein Bild, bei dem sowohl das Dargestellte (Mock-Universum) als auch die Darstellungsmechanismen (Simulation) hochgradig abstrakt erscheinen. Interessant ist dabei vor allem die Farbwahl: Dunkle Materie wird als weiss dargestellt – eine Entscheidung, die kontraintuitiv erscheinen mag. Es wird deutlich, wie stark die Farbwahl die inhaltliche Interpretation lenken kann. Kommt dann noch eine abstrakt wirkende Linienstruktur – hier das faserartige Netz – hinzu, lädt das Bild zu vielfältigen weiteren Interpretationen ein. Es handelt sich um ein Bild mit einem hohen Potential an Mehrdeutigkeit und Bedeutungsreichtum. Auf den ersten Blick sind verschiedene Interpretationen eines solchen Bildes denkbar: wie die nahe liegenden Assoziation einer Luftaufnahme einer Wasseroberfläche. Hier kommt die eigentümliche Qualität der Farbe, sich einer eindeutigen Erfassung zu entziehen, stark ins Spiel. Schliesslich haben sich sowohl Künstler als auch Physiker über Jahrhunderte hinweg den Kopf über die Farbe zerbrochen: Gehört Farbe zu den Phänomenen der physikalischen Welt oder ist sie das Ergebnis subjektiver Betrachtung? Gibt es eine eindeutige psychologische Interpretation der Farbe? Aufgrund ihrer Fähigkeit zur Metamorphose wurde Farbe in bestimmten Zusammenhängen als „polymorphe magische Substanz” (Taussig) bezeichnet. Diese Wandlungsfähigkeit der Farbe schien zumindest eine Gewissheit unter vielen Ungewissheiten zu bieten. In der zeitgenössischen Wissenschaft hat die Farbe den Status eines Epiphänomens – im Gegensatz zu den Eigenschaften wie Gewicht oder Masse eines Körpers gilt sie als „sekundäre” Eigenschaft – als Begleiterscheinung. In der zeitgenössischen Astronomie merkt man jedoch, wie gerade diese Affinität der Farbe zur Metamorphose und Verwandlungsfähigkeit lustvoll in der Bildgestaltung eingesetzt wird. „False color” bezeichnet in der Astronomie die „falsche Farbe”, die eingesetzt wird, Bilder im Prozess der Datenübersetzung zu gestalten. Wir wirkmächtig die Farbe ist, das Kosmische zu suggerieren, veranschaulicht der künstlerische Kurzfilm „Novae” (2017, Thomas Vanz, Frankreich). Im Film wird mithilfe farbiger Tinte, die im Wasser zerstreut wird, Explosion einer Supernova inszeniert. Faszinierend ist vor allem die ästhetische Nähe – vielleicht sogar eine ästhetische Unentscheidbarkeit – dieser Farbigkeit zu jenen, die die Zuschauer:innen aus der populären Astronomie kennen.
Die Ästhetik des Wunders
Die Darstellung des Kosmos wird oft mit einer Ästhetik des Wunders oder des Erhabenen in Zusammenhang gebracht. Vor allem das Erhabene wurde in der Bildgeschichte stark im Kontext der Landschaftsmalerei diskutiert. Auch das Bild „Euclids Blick auf den Pferdekopfnebel” knüpft in gewisser Hinsicht an die Konventionen der Landschaftsmalerei an, indem es Ähnlichkeit mit einer zentralperspektivischen Raumdarstellung hat. Man meint im Bild oben und unten, nah und fern unterscheiden zu können. Darüber hinaus entsteht der Eindruck, dass diese Raumwerte nicht beliebig austauschbar sind, wie in vielen anderen Kosmosbildern dieser Ausstellung. Dabei spielt die Materialität des Nebels, aber auch die Licht- und Farbgestaltung eine grosse Rolle. Während der Nebel in einem erdigen Braun erscheint, ist die andere Bildhälfte in Blautönen gehalten – ähnlich wie in der Landschaftsmalerei die Darstellung der Ferne oft durch eine blaue Farbschicht über dem weiten Raum realisiert wird. Häufig erzeugt dort die weiche Erscheinung der Wolken eine mystische Stimmung, wenn auf diese Weise die scharfe Grenze zwischen Erde und Himmel verwischt wird. Die Nähe der astronomischen Bilder zur Landschaftsmalerei hat insbesondere die Medienwissenschaftlerin Elizabeth Kessler festgestellt, als sie die für die Landschaftsmalerei charakteristischen Mechanismen zur Erzeugung einer erhabenen Stimmung auch in den Bildern des Weltraumteleskops Hubble beobachtete. Als solche Mechanismen identifizierte sie den Eindruck von Bewunderung, Grösse, Geheimnis, Unbekanntem aber auch den Eindruck von Tiefe in Bildern, die Schluchten, Felsen oder Gipfel in der Landschaft zeigen. Auch wolkenverhangene Ausblicke würden zu dieser Stimmung beitragen. Dass diese Verbindung von Kosmos und wundersamer Landschaft auch in anderen Kontexten vorkommt, zeigt beispielsweise der Dokumentarfilm „Hubble 3D” (2010, Toni Myers, USA), in dem die Zuschauer:innen zu einer „echten Sternenreise” eingeladen werden und der Orionnebel, dessen Teil auch der „Pferdekopfnebel” ist, im Film als Canyon bezeichnet und inszeniert wird.
Universalismus kosmischer Ästhetik
Eine schwarze Fläche mit Sternen als Himmelskörpern erscheint beinahe wie ein „Urbild”, als ikonografische Darstellung des Universums. In verschiedenen populären Darstellungen – vom Film bis zu bildenden Künsten – ist diese minimalistische Darstellung einer dunklen mit hellen Punkten durchsetzten Fläche wirksam. Von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum” (UK / USA) bis zu den monumentalen Fotografien von Thomas Ruff ist in diesem Sinne eine darstellerische Kontinuität zu beobachten. Bereits bei den ersten technischen Aufnahmen des Weltalls in den Anfängen der Astrofotografie im 19. Jahrhundert lassen sich Eingriffe in die Fotografie beobachten, bei denen der Hintergrund homogen schwarz gemacht wurde, um die abgebildeten hellen Himmelskörper hervorzuheben. Diese Eingriffe waren in erster Linie ästhetisch motiviert. Das Ergebnis solcher Bearbeitungen waren flächig wirkende Bilder, in denen der Raum – auch wenn die Darstellungen eigentlich immense räumliche Ausdehnungen darstellen sollten – eher zweidimensional wirkte. Ohne Tiefenmarkierungen des Raumes, d.h. Markierungen für Vorder-, Mittel- und Hintergrund des Bildes, bleibt die Orientierungsmöglichkeit über die Grössenverhältnisse eingeschränkt. Bei Darstellungen wie den „Euklids Blick auf einen kosmischen Schwarm” wird der Massstab dann vor allem durch den Bildtext definiert. Und erweckt das Bild des Perseushaufens zunächst den Eindruck, man sei den Sternen näher, so reisst die Information, dass es sich bei den hell leuchtenden Punkten nicht um Sterne, sondern um Galaxien handelt, die Betrachter:innen wieder aus der vermeintlichen Nähe zu den Himmelskörpern.
Eine solche Interpretationsoffenheit begünstigt auch eine gewisse ästhetische Durchlässigkeit zwischen Mikro- und Makrowelten, wie sie bereits in verschiedenen Darstellungen seit dem 19. Jahrhundert und bis heute zu beobachten ist. Eine mikroskopische Aufnahme von Plankton vor schwarzem Hintergrund würde in gewisser Weise mit einer ähnlichen Ästhetik ansprechen wie Aufnahmen von Sternen und Galaxien vor schwarzem Hintergrund. Mit welcher visuellen und bildgestalterischen Leichtigkeit man vom Mesokosmos des Menschen in den Makrokosmos des galaktischen Weltalls und wieder zurück in den Mikrokosmos unserer molekularen Lebensgrundlagen gelangen kann, hat in den 1970er Jahren der berühmte Experimentalfilm „Powers of Ten” (1977, Charles und Ray Eames, USA) gezeigt. Trotz der fantastischen Reise aus den unvorstellbaren Weiten des Makrokosmos in die ebenso fantastischen Massstäbe des Mikrokosmos ist dort eine gewisse ästhetische Ähnlichkeit beider Welten zu beobachten.
Materialitäten des Unsichtbaren
Die Bilder der zeitgenössischen Astrophysik bewegen sich zwischen den darstellerisch entfernten Polen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Einige Phänomene können mit blossem Auge beobachtet werden: der nächtliche Sternenhimmel, die Sonne, der Mond. Andere wiederum erfordern „Sehprothesen” wie Teleskope. Hier entfaltet sich eine Skala unterschiedlicher Sichtbarkeitsformen. Während irdische Teleskope ferne Himmelskörper für das blosse Auge vergrössern, schaffen andere Weltraumteleskope wie Hubble oder James Webb eine andere Form der Sichtbarkeit. Sie sammeln Daten, die in visuelle Phänomene übersetzt werden. Einen weiteren Abstraktionsschritt bieten Bilder wie „Die Kollisionen des Jupiters” und „Verschmelzende schwarze Löcher” in dieser Ausstellung, die „reine” Visualisierungen sind. Auch bei solchen Visualisierungen könnte man zwischen verschiedenen Formen simulierter Sichtbarkeit unterscheiden. Während die Visualisierung in Bild „Das Universum mit anderen Augen erforschen” eine theoretische optische Sichtbarkeit von Oberflächenphänomenen der physikalischen Welt darstellt, handelt es sich bei der Visualisierung in Bild „Die Kollisionen des Jupiters” um eine Art sichtbar gemachte Unsichtbarkeit. Das Bild zeigt den Kern des Jupiters und ermöglicht einen fiktiven Blick in das Innere des Planeten. Indem das Bild einen Blick in das Innere des physischen Körpers gewährt, erinnert es an die Tradition der Röntgenbilder.
Nicht zuletzt fasziniert die vergleichbar geisterhafte Materialität die visuelle Darstellung seit der Entdeckung der Fotografie. In Verbindung mit Apparaten wie Mikroskopen, Teleskopen oder Röntgenapparaten versprach die Fotografie, unsichtbare Phänomene der natürlichen Welt sichtbar zu machen. Zugleich eröffnete sich damit ein komplexes Verhältnis zur vermeintlich dokumentarischen Transparenz des Mediums. Gerade bei Phänomenen, die für das blosse Auge unsichtbar sind, treten die Mechanismen der Bildproduktion plötzlich deutlich hervor.
Das 19. und frühe 20. Jahrhundert sprach der Fotografie zudem die Fähigkeit zu, Unsichtbares sichtbar zu machen, auch ohne die Kopplung an seherweiternde Apparate wie Teleskope und Mikroskope. Die Geisterfotografie des 19. Jahrhunderts bediente sich der Technik der Doppelbelichtung, um – so die Behauptung – die Geister der Verstorbenen im Bild erscheinen zu lassen. Verdankt sich dieser historische Umstand einem der zeitgenössischen Astronomie fernem Kontext, so knüpft diese anekdotische Praxis an ähnliche ästhetische Affinitäten an, dank derer wir technischen Bildern, seien es Fotografien oder wissenschaftliche Simulationen, das Vertrauen entgegenbringen, dass sie etwas für uns Unsichtbares sichtbar machen können. Der Unterschied besteht darin, dass die unsichtbaren Phantome, die heute unsere Vorstellungskraft anregen, eher schwarze Löcher sind.
Ästhetik der Entstehung
Die Darstellung konzentrischer Kreise hat in der Astronomie eine lange Tradition. Bis zu Kopernikus dominierte das ptolemäische, geozentrische Weltbild. Aber auch Kopernikus, der nun die Sonne in den Mittelpunkt der konzentrischen Kreise stellte, konnte sich von den Formen der Kreise als Planetenbahnen nicht trennen: Denn diese perfekten Formen vermittelten einen harmonischen Eindruck und wurden daher mit göttlicher Vollkommenheit assoziiert. Diese historische Verbindung des Harmonischen mit dem Göttlichen klingt auch in zeitgenössischen kosmischen Darstellungen an. Insbesondere in der Darstellung „Die Geburtsstätte von Planeten” klingt die ästhetische Entsprechung einer deistischen Vorstellung des Erhabenen an. Die konzentrischen Kreise mit einem hellen, leuchtenden Kern scheinen nicht nur physikalische Verhältnisse wiederzugeben. Vielmehr entsteht der Eindruck von etwas Grösserem, einer Schöpfung, des Göttlichen. Im zeitgenössischen Kontext der visuellen Kunst wird man hier an das Kino von Terrence Malick erinnert, insbesondere an seinen Film „Voyage of Time” (2016, USA). Dort scheut sich der Filmemacher nicht, das Kosmische mit dem Göttlichen zu verbinden – insbesondere in den Szenen, in denen die Planeten entstehen, kreuzen sich kulturgeschichtliche und kosmologische Vorstellungen.
Apparate und Kontexte
Zwei Bilder von Jupiter, „Jupiters nördliche Hemisphäre” und „Jupiter aus der Sicht von JWST” aufgenommen mit zwei verschiedenen Apparaten, veranschaulichen die Formbarkeit und gleitende Ästhetik der Bildmaterialität in astronomischen Bildern. Die nördliche Hemisphäre Jupiters zeigt eine plastische Qualität des Planeten. Die Schattierungen deuten auf seine Dreidimensionalität hin. In gewisser Weise erinnert dieses Bild auch an das berühmte „Blue Marble”. Die kreisförmige Farbfläche funktioniert somit als kleinster gemeinsamer Nenner für eine visuelle, bildliche Darstellung eines Planeten. Durch die Möglichkeit, mit der Variation der Farbigkeit Bedeutung zu verschieben, wird der abstrakte Charakter der Himmelskörper im Bild unterstrichen. Im Gegensatz zum Bild aufgenommen mit der Juno-Raumsonde erscheint das Jupiterbild aufgenommen vom James-Webb-Weltraumteleskop viel flacher und die Oberflächenfarben suggerieren eine andere Materialität. Das Wolkige des Planeten, das Unstabile scheint hier stärker ausgeprägt. Die Gegenüberstellung dieser beiden Bilder veranschaulicht zwei Grundsätze der Fotografietheorie: Zum einen, dass Bilder einer Kontextualisierung bedürfen (Huberman), zum anderen, dass das, was sie uns zeigen können, durch die „Kategorien des Apparats” (Flusser) vorbestimmt ist. In diesem Sinne, auch wenn es sich um das Bild desselben Planeten handelt, wird es erst durch das Wissen darüber als solches wahrgenommen. Und andererseits zeigen uns die Bilder das, wofür ihre Aufnahmegeräte vorprogrammiert wurden.
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